Samstag, 30. August 2025

Alexievich, Svetlana "Secondhand-Zeit"

Alexievich, Svetlana "Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus" (Russisch: Время секонд хэнд/Vremja sekond khend) - Second Hand Time. The Last of the Sovjets - 2013

"In der UdSSR geboren - das ist eine Diagnose." Das sagte eine der von der Autorin interviewten Personen, und es wäre auch ein toller Titel für dieses Buch gewesen.

Ich entdeckte Swetlana Alexijewitsch, als sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, und beschloss daraufhin, "Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft" (Voices from Chernobyl: The Oral History of a Nuclear Disaster) zu lesen. Nachdem zwei Jahre später den Literaturnobelpreis erhalten hatte, entdeckte ich viele weitere ihrer Bücher, und "Secondhand-Zeit" klang nach einer großartigen Lektüre. Die Autorin hat ihre Interviews mit ehemaligen Bürgern der Sowjetunion niedergeschrieben – mit Menschen, die das neue System mochten, mit Menschen, die es nicht mochten, mit Menschen, die es liebten, mit Menschen, die es hassten. Sie hat ihre Lebensgeschichten niedergeschrieben, und man kann jeden Einzelnen von ihnen verstehen. Das macht Politik so schwierig: Es ist unmöglich, es allen recht zu machen, es gibt immer jemanden, der mit einer bestimmten Entscheidung nicht einverstanden ist.

Ich liebe ihr Verständnis für alle, wie sie es schafft, ihre Gefühle und Geschichten so zu erzählen, als wären wir mit den Erzählern dabei. Ich konnte mich auch mit vielen Geschichten identifizieren. Da wir in einer anderen Zeit aufgewachsen sind, haben wir wahrscheinlich viel von dem durchgemacht, was die ehemaligen Sowjets nach dem Zerfall ihres Staates durchmachen mussten. Nicht genau dasselbe, aber unser Leben war dem doch näher als das unserer Kinder heute. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich russische Literatur immer geliebt habe.

Und dann sind da noch die Geschichten, die sie erzählt, die uns ihren Interviewpartnern näherbringen. Mir gefiel, wie sie sagten: "Für uns ist die Küche nicht nur ein Ort zum Kochen, sie ist ein Esszimmer, ein Gästezimmer, ein Büro, eine Rednerbühne." und "Wir unterhalten uns gerne in der Küche, lesen ein Buch. 'Leser' ist unsere Hauptbeschäftigung." Oder ihre Witze über Politik – die besten Witze stammen immer von Unterdrückten. "Wie erkennt man einen Kommunisten? An jemandem, der Marx liest. Und wie erkennt man einen Antikommunisten? An jemandem, der ihn versteht." Aber einer meiner Lieblingssätze ist: "In fünf Jahren kann sich in Russland alles ändern, in zweihundert Jahren gar nichts."

Die Autorin hat mit ihrem Werk eine lebendige Geschichte der UdSSR zusammengestellt, ihre Misserfolge und ihre positiven Seiten. Ja, es gab viele Menschen, die in ihrer Unterdrückung etwas Positives sahen, und teilweise verstehe ich sie sogar. Abgesehen vom obigen Witz ist der Kommunismus eine gute Idee, wenn er nur für andere Spezies als den Menschen erfunden worden wäre. Weil der Mensch gierig ist, wird er niemals teilen wollen, und Karl Marx träumte davon, dass dies möglich sein könnte. Er teilte diesen Traum mit so vielen Menschen, genauso wie viele Menschen noch immer an den amerikanischen Traum glauben und daran, eines Tages Millionäre zu sein.

Svetlana Alexijewitsch bringt uns dazu, wie Russen zu denken, ihr tragisches Leben zu verfolgen und uns vorzustellen, dass wir es hätten sein können. Ich habe irgendwo gelesen, ihr Thema sei die "Geschichte der russisch-sowjetischen Seele". Keine schlechte Beschreibung. Ich habe noch nie eine so gute und prägnante Beschreibung des Lebens anderer Menschen gelesen. Sie fragte ihre Mitbürger, was sie unter "Freiheit" verstehen, und erhielt unterschiedliche Antworten von denen, die sich an die UdSSR erinnerten, und denen, die sich nicht an sie erinnerten. Sie sind in verschiedenen Ländern aufgewachsen. Ich kann das insofern nachvollziehen, als unser Land in Ost und West geteilt war, wahrscheinlich so, wie die UdSSR/Russen in Vorher und Nachher geteilt sind. Wir sprechen dieselbe Sprache, haben aber viele unterschiedliche Erinnerungen.

Die Autorin tut, was Tolstoi (Tolstoy) und Dostojewskij (Dostoevsky) vor anderthalb Jahrhunderten taten: Sie bringt Russland wieder auf die literarische Landkarte.

Dieses Buch hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Die Tragödien, die diese Menschen durchlebt haben und immer noch durchleben, sollten der ganzen Welt bekannt sein. Die Lektüre dieses Buches ist der erste Schritt.

Und falls ich es noch nicht wusste: Die Russen sind ein Volk von Lesern. Die Anzahl der erwähnten Autoren und Bücher ist enorm. Hier sind nur einige davon:

Autoren:
Belov, Vasily Ivanovich (Васи́лий Ива́нович Бело́в)
Berdyaev, Nikolai Alexandrovich (Никола́й Алекса́ндрович Бердя́ев
Chernyshevsky, Nikolay Gavrilovich (Никола́й Гаври́лович Черныше́вский)
Dobrolyubov, Nikolay Alexandrovich (Никола́й Алекса́ндрович Добролю́бов)
Dovlatov-Mechik, Sergei Donatovich (Серге́й Дона́тович Довла́тов)
Fyodorov, Nikolai Fyodorovich (икола́й Фёдорович Фёдоров)
Galaktionovich, Vladimir (Влади́мир Галактио́нович Короле́нк)
Grinevsky, Aleksandr Stepanovich (better known by his pen name, Aleksandr Grin, Александр Грин)
Grossman, Vasily Semyonovich (Васи́лий Семёнович Гро́ссман)
Herzen, Aleksandr Ivanovich (Алекса́ндр Ива́нович Ге́рцен)
Iskander, Fazil Abdulovich (Фази́ль Абду́лович Исканде́р)
Kollontai, Alexandra Mikhailovna (Алекса́ндра Миха́йловна Коллонта́й - née Korolenko, Domontovich, Домонто́вич)
Lermontov, Mikhail Yuryevich (Михаи́л Ю́рьевич Ле́рмонтов)
Nekrassow, Nikolai Alexejewitsch (Николай Алексеевич Некрасов)
Ogarev, Nikolay Platonovich (Никола́й Плато́нович Огарёв)
Okudzhava, Bulat Shalvovich (Була́т Ша́лвович Окуджа́ва)
Platonov, Andrei (Андре́й Плато́нов)
Pushkin, Alexander Sergeyevich (Алекса́ндр Серге́евич Пу́шкин)
Rasputin, Grigori Jefimowitsch (Григорий Ефимович Распутин)
Saltykov-Shchedrin, Mikhail Yevgrafovich (Михаи́л Евгра́фович Салтыко́в-Щедри́н)
Shalamov, Varlam Tikhonovich (Варла́м Ти́хонович Шала́мов)
Uspensky, Gleb Ivanovich (Глеб Ива́нович Успе́нский)

Bücher:
Belyaev, Alexander Romanovich (Беляев, Александр Романович) "Человек-амфибия=Chelovek-Amfibiya" (Amphibian Man/Der Amphibienmensch) - 1927
Brezhnev, Leonid Ilyich (Бре́жнев, Леони́д Ильи́) "Малая земля=Malaja semlja" (Little Land/Das kleine Land) - 1978
Brezhnev, Leonid Ilyich (Бре́жнев, Леони́д Ильи́) "Возрождение=Vozrozhdenie" (Rebirth/Wiedergeburt) - 1978
Brezhnev, Leonid Ilyich (Бре́жнев, Леони́д Ильи́) "Целина=Celina" (The Virgin Lands/Neuland) - 1979
Bulgakov, Mikhail (Булгаков, Михаил Афанасьевич) "Ма́стер и Маргари́та=Master i Margarita"  (The Master and Margarita/Der Meister und Margarita) - 1967
Bunin, Ivan Alekseyevich (Бунин, Иван Алексеевич) "Okajannyje dni=Окаянные дни" (Cursed Days/Verfluchte Tage) (Nobel) - 1926
Chekhov, Anton Pavlovich (Чехов, Антон Павлович) "Сапожник и нечистая сила= Sapozhnik i nechistaja sila" (The Cobbler and the Devil aka The Shoemaker and the Devil/Der Schuster und das Böse) - 1888
Chernyshevsky, Nikolay Gavrilovich (Чернышевский, Николай Гаврилович) "Что делать?=Chto delat?" (What is to be done?/Was tun?) - 1863
Dostojevskij, Fyodor Mikhailovich (Фёдор Миха́йлович Достое́вский) "Братья Карамазовы/Brat'ya Karamazovy" (The Brothers Karamazov/Die Brüder Karamasow) - 1879-80
Fadejew, Alexander Alexandrowitsch (Александр Александрович Фадеев) "Molodaia gvardia=Молодая гвардия" (The Young Guard/Die junge Garde) - 1946
Gogol, Nikolai Vasilievich (Никола́й Васи́льевич Го́голь) "Шинель=Shinel" (The Overcoat/Der Mantel) - 1842
Marx, Karl "Das Kapital" (Capital: Critique of Political Economy) - 1867
Ostrovsky, Nikolai Alexeevich (Николай Алексеевич Островский) "Как закалялась сталь=Kak zakalyalas' sta" (How the Steel Was Temperered/Wie der Stahl gehärtet wurde) - 1832-34
Pasternak, Boris Leonidovich (Пастернак, Борис Леонидович) "Доктор Живаго=Doktor Živago" (Doctor Zhivago/Doktor Schiwago) - 1957
Polevoy, Boris Nikolaewich (Борис Николаевич Полевой) "Повесть о настоящем человеке= Povest' o nastojashhem cheloveke" (The Story of a Real Man/Der wahre Mensch) - 1947
Rybakov, Anatoly Naumovich (Рыбаков, Анатолий Наумович) "Дети Арбата=Deti Arbata" (Children of the Arbat/Kinder des Arbat) - 1987
Sholokhov, Mikhail Aleksandrovich (Шолохов, Михаил Александрович) "Они сражались за Родину=Oni srazhalis' za Rodinu" (They Fought for Their Country/Sie kämpften für ihre Heimat) - 1959 Nobel Prize
Solzhenitsyn, Aleksandr Aleksandr Isayevich (Солженицын, Александр Исаевич) "Архипелаг ГУЛАГ=Archipelag GULAG" (The Gulag Archipelago/Der Archipel Gulag) - 1973
Solzhenitsyn, Aleksandr Isayevich (Солженицын, Александр Исаевич) дин день Ивана Денисовича=Odin den' Ivana Denisovicha" (One Day in the Life of Ivan Denisovich/Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch) - 1962
Tolstoy, Lew Nikolajewitsch (Толстой, Лев Николаевич) "Война и мир=Woina I Mir" (War and Peace/Krieg und Frieden) - 1868/69
Turgenev, Ivan Sergeyevich (Тургенев, Иван Сергеевич) "Zapiski Okhotnika=Записки охотника" (A Sportsman's Sketches aka The Hunting Sketches/Aufzeichnungen eines Jägers) - 1852

Buchbeschreibung:

"Gut zwanzig Jahre sind vergangen seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, die Russen entdeckten die Welt, und die Welt entdeckte die Russen. Inzwischen aber gilt Stalin wieder als großer Staatsmann, die sozialistische Vergangenheit wird immer öfter, vor allem von jungen Menschen, nostalgisch verklärt. Russland, so Swetlana Alexijewitsch, lebt in einer Zeit des 'Second-hand', der gebrauchten Ideen und Worte. Die Reporterin befragt Menschen, die sich von der Geschichte überrollt, gedemütigt, betrogen fühlen. Sie spricht mit Frauen, die in der Roten Armee gekämpft haben, mit Soldaten, Gulag-Häftlingen, Stalinisten. 'Historiker sehen nur die Fakten, die Gefühle bleiben draußen …, ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschforscherin.' Wer das Russland von heute verstehen will, muss dieses Buch lesen. Swetlana Alexijewitsch formt aus den erschütternden Erfahrungen von Menschen, die zwischen Neuanfang und Nostalgie schwanken, den Lebensroman einer noch nicht vergangenen Epoche."

Die Staaten Russlands, der UdSSR und der ehemaligen UdSSR hatten einige Nobelpreisträger für Literatur. Swetlana Alexijewitsch ist bisher die letzte.

Nobelpreisgewinner für Literatur:
Ivan Bunin - 1933
Boris Pasternak - 1958
Michail Sholokhov - 1965
Aleksandr Solzhenitsyn - 1970
Joseph Brodsky - 1987
Alexievich, Svetlana - 2015 (Weißrussland aber geboren in der UdSSR)

Svetlana Alexievich  erhielt den Nobelpreis für Literatur  2015 "für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt" und den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2013.

Ich wirke an dieser Seite mit: Read the Nobels und Ihr könnt alle meine Blog-Einträge über Nobelpreisträger und ihre Bücher hier finden.

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