Samstag, 8. Oktober 2022

Regener, Sven "Herr Lehmann"

Regener, Sven "Herr Lehmann" - Berlin Blues - 2001 

Dies ist die Geschichte eines Mannes, den viele wahrscheinlich als Versager bezeichnen würden. Frank kommt aus Bremen, lebt aber in Berlin und arbeitet in einer Kneipe. Seine Eltern denken, er könnte es besser machen, sein Bruder findet das jedenfalls. Seine Freunde nennen ihn Herr Lehmann, ein Mädchen nach dem anderen verlässt ihn.

Man könnte meinen, dieses Buch sei langweilig, aber das ist es nicht, es beschreibt das letzte Jahr vor dem Mauerfall in einer jahrzehntelang geteilten Stadt. Es ist sowohl humorvoll als auch philosophisch, ein schwieriger Grat zu wander, aber Sven Regener hat das ganz gut hinbekommen. Ganz ironisch spricht er über Sprache und Leben, über all die kleinen Dinge, die das Leben schwer, aber auch wunderbar machen.

Eine schöne Geschichte, gut geschrieben, eine realistische Geschichte über das Leben der "kleinen Leute". Ich werde weitermachen und die beiden anderen Bücher dieser Trilogie lesen, "Neue Vahr Süd" und "Der kleine Bruder".

Buchbeschreibung:

"Kreuzberger sind schon komische Vögel. Sie sitzen Abend für Abend am Tresen, trinken Kristallweizen ohne Zitrone und gehen erst ins Bett, wenn Mutti in Bremen schon wieder aufsteht. Und wenn draußen die Mauer fällt, bestellen sie erst mal in Ruhe noch ein Bier. Denn was ist schon das Ende der Geschichte (denkt sich der Leser am Ende dieser Geschichte) gegen die Frage, ob die Zeit schneller oder langsamer vergeht, wenn man betrunken ist?

Herr Lehmann ist Kreuzberger. Kreuzberger sind Menschen, die irgendwann einmal aus Schwaben, Achim oder Herford nach Berlin gekommen und dort 'hängen geblieben' sind. Herr Lehmann kommt ursprünglich aus Bremen und möchte eigentlich Frank genannt werden, aber das ignorieren seine Freunde: denn bald ist Herrn Lehmanns dreißigster Geburtstag. Und 30 Jahre alt zu werden, weiß Herr Lehmann, ist Scheiße, weil man da langsam "beginnt, eine Vergangenheit zu haben, eine gute alte Zeit und den ganzen Scheiß." Und weil auf einmal alle anfangen zu fragen, was man denn bitte schön anfangen wolle mit dem eigenen Leben. Denn dass jemand zufrieden damit ist, Kellner zu sein, ist in dieser Stadt, in der alle 'eigentlich Künstler' sind, nicht vorgesehen - 'aber was ist das für ein trauriger Umgang mit dem, was man tut, wenn man es immer nur als Zwischenlösung ansieht, als nichts Richtiges?'

Sven Regener kennt, wovon er schreibt. Als Sänger und Texter der Berliner Band Element of Crime ist er seit genau jenen Spätachtzigern, in denen die Romanhandlung spielt, immer auch genauer Chronist eines Kreuzberger Lebensgefühls jenseits von '
Kreuzberger Nächte sind lang' gewesen. Mit Herr Lehmann ist ihm das erstaunliche Kunststück gelungen, jene zärtlich-rotzige Nonchalance, die seine Lieder auszeichnet, umstandslos in die lange Form zu überführen - und das gleich in seinem literarischen Erstlingswerk!

Mit seinem Roman setzt Regener jenem merkwürdig zeitlosen Kreuzberg der Vorwendezeit, das einem heute so weit weg erscheinen will, so etwas wie ein Denkmal - für die Zeit
Damals hinterm Mond. Doch trotz so schöner Einsichten wie 'Der Elekrolytmangel ist der größte Feind des Trinkers. Von der Dehydrierung einmal abgesehen', geht es hier keineswegs nur ums Bohème-Leben im Allgemeinen und ums Trinken im Besonderen. Das Ganze ist nämlich auch eine Art Entwicklungsroman - freilich zu Kreuzberger Bedingungen: Muss doch der Held - für den es anfangs noch eine Qual ist, wenn er auf dem Weg von Kreuzberg nach Kreuzberg durch Neukölln muss - gegen Ende des Romans immerhin zur Kenntnis nehmen, dass es auch hinter der Oberbaumbrücke noch Menschen gibt. Das Ende der Geschichte? Erst mal losgehen, denkt sich Herr Lehmann. 'Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.
Pflichtlektüre für die Jahrgänge 1959-1969, für Kreuzberger sowieso. Axel Henrici
"

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