Mittwoch, 3. August 2022

Grass, Günter "Mein Jahrhundert"

 

Grass, Günter "Mein Jahrhundert" - My Century - 1999

Lange Zeit gehörte Günter Grass nicht wirklich zu meinen Lieblingsautoren, nicht zu meinen deutschen Lieblingsautoren oder zu meinen Lieblings-Nobelpreisautoren. Aber mittlerweile ist er mir ans Herz gewachsen und hat mit dieser Arbeit gezeigt, warum er den Nobelpreis wirklich verdient hat. Hundert Jahre in hundert Geschichten, erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven, von Arm und Reich, von Links und Rechts, von denen, die gegangen sind, und denen, die geblieben sind. Männer, Frauen, Kinder, alle hatten die Chance, ihre Geschichte zu erzählen, die für diesen Teil des Jahrhunderts so besonders ist. Wer verstehen will, was die Deutschen in dieser Zeit durchgemacht und erreicht haben, findet hier einen guten Ausgangspunkt.

Dies ist nicht das GROSSE Buch über das Jahrhundert, das Buch, das uns alle erzählt, wie die Dinge passiert sind, nein, das sind eher kleine Blicke durch das Schlüsselloch in die Wohnzimmer und in die Herzen all jener Deutschen, die im 20. Jahrhundert gelebt haben.

Ich bin auch kein großer Fan von Kurzgeschichten. Aber dies ist so viel mehr als nur eine Sammlung von Kurzgeschichten. Viele von ihnen kamen mir bekannt vor, entweder weil ich sie selbst erlebt oder gesehen habe, schließlich habe ich fast die Hälfte des Jahrhunderts mitgemacht, oder weil sie mir von meinen Eltern und Großeltern erzählt wurden (einige von ihnen wurden sogar in Jahrhundert davor geboren). Man kann unmöglich jeder einzelnen Geschichte zustimmen, weil sie zu unterschiedlich sind, sie zeigen einen breiten Überblick über jeden Aspekt des Lebens, jede politische Partei, jeden persönlichen Standpunkt.

Sicherlich gibt es Geschichten, bei denen jemand, der nichts über die deutsche Geschichte weiß
(außer dass sie DEN Krieg begonnen haben), mehr Erklärungen benötigt, aber ich glaube dennoch, dass dieses Buch uns etwas lehrt, zumindest den Appetit weckt, mehr über bestimmte Teile der Geschichte zu erfahren.

Manche Geschichten sind auch persönlich, sie sind fast wie eine Mini-Biografie des Autors. Wenn man nichts über ihn weiß, ist das vielleicht schwer zu verstehen, man sollte es einfach als Teil des Versuchs ansehen, das Jahrhundert eines Landes in ein Buch zu bringen. Keine leichte Aufgabe, aber Günter Grass hat sie ganz gut gemeistert.

Buchbeschreibung:

"Redet hier das Jahrhundert selbst? Je mehr man blättert, desto stärker wird die Sogwirkung. Ein schweres Buch. Aber auch wieder sehr leicht. Aber doch wieder so schwer, daß es am liebsten an einem Stehpult gelesen werden möchte. Wie seltsam. Wie schön. Günter Grass schlüpft in Rollen. Behutsam werden wir von ihm durch das zu Ende gehende Jahrhundert geführt, Grass zeichnet es nach - Jahr für Jahr - ein Aquarell, eine Geschichte.

Nicht die Großereignisse liegen ihm am Herzen. Es sind die Nebenschauplätze, die er aufspürt, oft scheinbar Unwesentliches, das bei näherer Betrachtung aber schlagartig zur Erhellung des Ganzen beiträgt. Es sind die Sabotagegedanken eines verzweifelten Bordmechanikers während des demütigenden Fluges zur Übergabe des Luftschiffs LZ126 als Reparationszahlung an die Amerikaner 1924. Das Essay über die ideologische Bredouille des linken Lehrerehepaars, dessen Anzeige bei der Polizei 1972 zur Verhaftung Ulrike Meinhofs führte, ist eines der beklemmendsten und feinstbeobachteten in diesem Buch.

Über die furchtbaren Weltkriegsjahre 1914-1918 schwadronieren im edlen Züricher Café die Autoren Remarque und Jünger im Beisein einer jungen Schweizerin. Schnell gerät man sich in die Haare über Stahlhelmqualitäten und Feinheiten des Gaskrieges an der Westfront. Grass läßt das Gespräch Mitte der 60er Jahre stattfinden und plötzlich wird bedrückend klar, wo die Herren noch immer zu Hause sind und es wohl auf immer und ewig sein werden. Die Episode nimmt eine wahrhaft schaurige Wendung, als die junge Eidgenossin in einem kleinen Nebensatz zu erkennen gibt, dieses Gespräch im Rahmen einer Forschungsarbeit für eine der größten Schweizer Waffenschmieden zu führen.

Die Geschichten wollen nicht enden. Es gäbe noch so viel zu erzählen. Von Jankele, dem jüdischen Glaser, der das Panzerglas für Eichmanns Zelle anfertigte und nun im Gerichtssaal über seine getötete Familie reflektiert, und, und, und.

Gegen Ende schlüpft Grass gar noch in Birgit Breuels Kleider. Er konnte nicht anders. Sein Lieblingshaßobjekt. In einer wunderbar entlarvenden Rechtfertigungssuada läßt er die Treuhanddame lamentieren über jenen deutschen Großdichter, der sich erdreistet, sie in seinem geplanten Roman mit der Figur eines anderen Großen, Fontane, zu vergleichen. '
Nur weil eine gewisse Frau Jenny Treibel es genau wie ich verstanden hat, das Geschäftliche mit der Poesie zu verbinden. Aber sollte dennoch alles schiefgehen, man hat ja noch den Familienbesitz mit Elbblick!' Dazu Grass´ aquarellierte Hand, aus der Menschlein wie geknickte Streichhölzer rieseln. Getroffen!

Vielleicht läßt der eine oder andere Käufer ja diesmal seine obligate Geschenkidee, '
Unser Jahrhundert im Bild' auf dem Wühltisch am Kaufhauseingang liegen. Mein Jahrhundert ist ebenso reich an Bildern, keine Königshochzeiten zwar, aber Geschichten und Aquarelle von einer Kraft, die jeden halbwegs sensiblen Leser so schnell nicht mehr losläßt. Ravi Unger."

Günter Grass erhielt den Nobelpreis für Literatur 1999 "weil er in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat".

Ich wirke an dieser Seite mit: Read the Nobels und Ihr könnt alle meine Blog-Einträge über Nobelpreisträger und ihre Bücher hier finden.

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