- Für mich fühlte sich Meursault wie ein Zuschauer des Lebens an. Er hatte keine moralischen Maßstäbe und folgte dem Leben ohne jegliche Art von Beitrag von sich selbst. Gesellschaft, Religion, Sinn des Lebens, alles war gleichgültig. Dass er sich den Erwartungen der Gesellschaft und des Gerichts nicht beugte, indem er log, um sich zu entschuldigen, sah ich nicht als Tugend der Ehrlichkeit, sondern als Fehler der Gleichgültigkeit. Meiner Meinung nach würde das heute eine Persönlichkeitsstörungsdiagnose nach sich ziehen und nicht als positiver Kommentar zur Absurdität des Lebens verstanden werden. Die Welt war in den 40er Jahren und davor anders.
- Ich habe "Der Fremde" von Albert Camus gekauft und gelesen, und ja, ich habe es vor etwa 50 Jahren gelesen. Wir haben "Der Mythos des Sisyphos" an der Universität studiert und das Stück "Caligula" in der Highschool, und mir muss die Herausforderung seines Denkens und die Qualität seiner Schriften schon damals gefallen haben. Wunderschöne Werke! Ich erinnere mich, dass ich Meursaults Gleichgültigkeit und Verleugnung damals als Symptome einer tief empfundenen, aber unausgesprochenen Trauer über den Tod seiner Mutter betrachtete. Ich bleibe bei dieser Meinung. Als ich den Tod von Menschen erlebte, die mir nahestanden, hatte ich einige der gleichen Gedanken und Empfindungen. Übrigens war Camus alles andere als gleichgültig und fand in seinem Leben Sinn in seiner leidenschaftlichen Politik und seinem Streben nach Gerechtigkeit. Ich glaube wirklich, dass das Leben mit so viel Bedeutung gefüllt ist, wie man verarbeiten kann, auch wenn man sie selbst schaffen muss.
"Die Sonne sei Schuld gewesen, er habe den Araber am Strand nicht erschießen wollen. Mit dieser Erklärung erntet der Büroangestellte Meursault vor Gericht nur Gelächter. Der Staatsanwalt fordert seinen Kopf und klagt ihn der Unmenschlichkeit an.
Meursaults grundlegende Schuld besteht jedoch darin, ein Sonderling zu sein, gesellschaftliche Spielregeln zu mißachten, am Grab seiner Mutter nicht geweint und tags drauf eine Liebschaft begonnen zu haben. Man wird lange suchen müssen nach einem Roman, in dem eine Philosophie (aus Camus' zeitgleich entstandenem Essay über das Absurde Der Mythos von Sisyphos) ähnlich elegant und überzeugend in Literatur verwandelt wird. Und erstaunlich, wie betörend klar und frisch die Sprache in Camus' frühem Meisterwerk heute noch wirkt, wie kunstvoll Aufbau und Motivführung sind.
Meersault ist ein Anti-Held par excellence: Abgesehen von kleinen sinnlichen Genüssen lebt er unauffällig, gelangweilt und passiv sein unbedeutsames Leben. Er läßt sich treiben, wenn er nichts zu sagen hat, redet er auch nicht, und als ihn Maria fragt, ob er sie heiraten wolle, ringt er sich nur ein 'das ist mir einerlei' ab. Erst angesichts des Todesurteils beginnt er nachzudenken und wird sich bewußt, daß er glücklich gewesen war und es immer noch ist. Als der Gefängnispriester ihn, den Ungläubigen, zu gottesfürchtiger Buße anhält, schleudert er ihm wütend sein eigenes Glaubensbekenntnis 'dieses ganzen absurden Lebens' ins Gesicht und unterwirft sich endgültig 'der zärtlichen Gleichgültigkeit der Wel'", der er sich 'brüderlich' verbunden fühlt. Er hat nur noch einen Wunsch: 'Am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer, die mich mit Schreien des Hasses empfangen'."
Albert Camus erhielt den Nobelpreis für Literatur 1957 "für seine bedeutungsvolle Verfasserschaft, die mit scharfsichtigem Ernst menschliche Gewissensprobleme in unserer Zeit beleuchtet".
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